Leseproben

 Mitgefangen

              Mitgehangen

... „Sie wollen mir weismachen, dass Sie von den Betrügereien der Fulminator-Bank keinen blassen Schimmer hatten?“ Der Kommissar blätterte in der Broschüre. 


„Und was sagen Sie dazu? In dem Prospekt wird behauptet, dass Sie im Schlosspark der Residenz Stuttgart wertvolle Grundstücke erworben hätten. Schauen Sie sich die Fotos an. Es handelt sich um einen Reitstall mit der früheren Wohnung des Stallmeisters und das ehemalige Kutscherhaus. Alles ist nur einen Katzensprung vom Schloss entfernt. Dann haben Sie auch noch Dachterrassenwohnungen mit Blick auf den Schlosspark angepriesen. Blumenstein, wollen Sie mich für dumm verkaufen? Sie behaupten, von diesem Schwindel keine Ahnung gehabt zu haben?“


„Das konnte ich nicht überprüfen. Die Angebote wurden mir auf den Tisch gelegt. Meine Aufgabe war es, die Immobilienangebote an den Mann zu bringen und sie in unseren Pressemitteilungen wiederzugeben. Alle Außendienstmitarbeiter wurden nach diesen Vorgaben geschult. Herr Kommissar, ich war nur ein kleines Rädchen in der Maschine. Der Präsident hat uns die Richtlinien vorgegeben. Wir waren nur die Ausführenden.“


„Ich verstehe“, murmelte der Kommissar, „bei Ihnen galt das Motto: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. Blumenstein, Sie waren wohl völlig ahnungslos.“ Der Kommissar knallte wieder den Hochglanzprospekt auf den Tisch. „Ich sage Ihnen mal was. Wie heißt es doch so schön: Mitgegangen, mitgehangen. Die Fulminator-Bank hat ihre Kunden von vorne bis hinten beschissen und belogen. 


Und ich möchte Ihnen noch etwas verraten, Blumenstein. Sie werden nach dem Gerichtsurteil im Gefängnis landen. Darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel. Die Beweislage ist erdrückend. Vorerst bleiben Sie in Untersuchungshaft.“ ...

Nach dem anstrengenden Gespräch mit Thomas und meiner Mutter bummelte ich durch die Straßen der Stuttgarter Altstadt. Gedankenverloren blieb ich vor einem Spielcasino stehen. Durch das Schaufenster konnte ich die Spieler beobachten, die gebannt auf die rotierenden Scheiben der Spielautomaten starrten. Das laute Klimpern der Münzen brachte mich auf einen Gedanken: Warum nicht, vielleicht habe ich beim Automatenspiel Glück. 

Ich setzte mich vor einen einarmigen Banditen und warf ein paar Münzen ein. Klack, klack, die Scheiben drehten sich in einem rasanten Tempo. Noch ein paar langsame Umrundungen, plötzlich blieben sie stehen. Nichts passierte. Drei ungleiche Bilder starrten mich an. Wieder und wieder drehten sich die Scheiben. Plötzlich ertönte eine laute Fanfare. Klack, klack, klack. Mein ursprünglicher Einsatz hatte sich in Windeseile verzehnfacht. Ich entspannte mich. Das fing ja gut an.

Meine Nachbarin gratulierte mir. „Sie haben Glück, ich sitze hier schon seit Stunden. Der Automat hat es auf mich abgesehen. Er zieht mir am laufenden Band das Geld aus der Tasche. Aber er kann mich nicht an der Nase herumführen. Ich habe ein bestimmtes Gefühl. Bald werde ich die richtige Zahl erwischen.“

Ich schaute zu ihr herüber. Sie saß an einem Rouletteautomaten. Unentwegt verfolgte sie die Kugel, die über siebenunddreißig Zahlen kreiste. Mitunter schob sie ihre Hände über das Spielfeldfenster. Als wollte sie die Niederlage nicht mit ansehen oder sich durch einen Sieg überraschen lassen? „Spielen Sie eine bestimmte Zahl“, fragte ich, „vielleicht Ihr Geburtsdatum?“

Sie lachte. „Nein, bestimmt nicht. Mein Geburtsdatum ist schon lange passé. Es soll Leute geben, die beim Lotto jahrelang ihr Geburtsdatum spielen.“ Sie blickte sich vielsagend um. „Vielleicht auch hier im Spielcasino. Einige spielen das Geburtsdatum ihrer Kinder, mitunter müssen auch die Enkelkinder dran glauben. Ich spiele nur nach meinem Bauchgefühl, manchmal habe ich eine Eingebung. Gestern habe ich 800 Euro gewonnen. Heute will der Automat nichts mehr rausrücken. Aber ich habe den längeren Atem.“ Plötzlich warf sie wieder ihre Hände vor das Anzeigefenster. Eine Siegesfanfare ertönte. Sie lachte. „Ich habe es doch gewusst. Der Automat wollte mich zum Narren halten. Jetzt hat es endlich geklappt.“ 

Blitzschnell wurde ihr Konto mit dem fünfunddreißigfachen Einsatz nach oben geschossen. 

„Reicht es für heute?“, fragte ich sie.

„Noch nicht, jetzt habe ich eine Glückssträhne.“ 

Wenig später ertönte wieder die Siegesfanfare. Sie stieß einen Jubelschrei aus. Voller Zufriedenheit drückte sie die Entertaste. Mit lautem Klimpern fielen die Fünf-Euro-Stücke in die Ablage. Sie raffte die Münzen zusammen und fragte mich, ob sie mich zu einem Drink einladen könnte.


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Der Friedhofsgärtner

Es gibt immer Geheimnisse ...

…mit einem Gefühl der Beklemmung betrat ich die Eingangshalle zum Spielcasino. Im weißen Saal, der gerne als Wintergarten bezeichnet wird, blendete mich die Pracht der pompösen Kronleuchter. Am Ende des Raumes waren die Spieltische aufgestellt. Die Wände waren mit wertvollen Gobelins aus der französischen Kolonialzeit versehen. Spiegel, mit vergoldeten Barockrahmen, verliehen dem Raum ein vornehmes Ambiente. 


Auf vorgedruckten Formularen notierten die Besucher die zuletzt geworfenen Roulette-zahlen. Systemspieler waren in ihre Berechnungen vertieft. Der Wurfcroupier rief: »Fai-tes vos jeux!« (Setzen Sie Ihre Zahlen!). Die Spieler drängelten sich an den Tisch und platzierten ihre Chips auf alle möglichen Chancen. Manche setzten direkt auf eine Zahl, andere auf Cheval (zwei Zahlen), weniger Wagemutige auf ein Dutzend, auf Rot oder Schwarz. Einige Gäste schoben ihre Chips im Wert von zwei oder fünf Euro zaghaft auf den Tisch, andere legten gleich Hunderte Euro auf das Tableau. Ein betuchter Herr war in Eile und warf einige Scheine auf den Tisch. Laut rief er zum Croupier: »Tausend auf Rot.« Der Croupier wiederholte die Ansage, tauschte die Geldscheine in einen Chip und schob den quadratisch geformten Jeton auf Rot. Im Nu war der Tisch mit bunten Jetons übersät. Auf dem Roulettetisch stapelten sie sich wahllos übereinander. Mit seinem Ra-teau schob der Croupier die Chips zu geordneten Häufchen. Kurz darauf rief er: »Rien ne va plus!« (Nichts geht mehr!). 


Er fasste das Drehkreuz und warf mit einem eleganten Schwung die Kugel in den Roulettekessel, der sich geräuschlos im Kreis drehte. Kurz be-vor die Kugel auf die Rhomben fiel, drängelten sich einige Spieler an mir vorbei. Einer rief laut: »Die Zwölf.« Eilig schob er dem Croupier einen Hundert-Euro-Schein zu. Der Crou-pier wiederholte die Annonce und legte den Schein auf die Zwölf. In der nächsten Se-kunde traf die Kugel auf die im Kessel angebrachten Rhomben. Sie sprang wild herum und rollte in ein Zahlenfach. Aber sie war noch voller Energie, gleich darauf flog sie klap-pernd auf die nächste Zahl. Wie vom Teufel geritten hüpfte sie noch einmal hoch und traf schließlich wie ein in die Irre geleitetes Projektil die Zahl. »Zwölf«, rief der Croupier. Mein Nachbar, der in letzter Sekunde seine Annonce getätigt hatte, war hoch erfreut. Andere Spieler murmelten enttäuscht etwas vor sich hin. Ohne zu zögern, fegte der Croupier mit seinem Rateau den Spieltisch leer. Die enttäuschten Gesichter der Spieler schienen ihn nicht im Geringsten zu interessieren. Wortlos zog er seine Beute ein und verfrachtete die Jetons in fächerförmige Ablagen.



… am nächsten Tag traf Pfarrer Meinert gegen Mitternacht bei uns ein. Er begrüßte mich mit den Worten: »Ich freue mich, dass du in den Schoß der Kirche zurückgekehrt bist. Der Geist kann nur mit christlicher Hilfe vertrieben werden. Nina erzählte mir, dass nachts fürchterliche Schreie – mitunter auch Klagelieder – aus dem Kellergewölbe zu hören seien. Ich habe mich mit der Geschichte des Anwesens ein wenig befasst. In früheren Zeiten wohnte hier der Reichsgraf Johann v. Görliz. Vom Kaiser Franz II. wurde er 1803 in den kurfürstlichen Stand erhoben. In den Memoiren des vormaligen Reichsgra-fen ist zu lesen, dass er ein ziemlicher Lüstling gewesen ist. Keine Hausmagd oder Köchin blieb vor ihm verschont. Stets hat er seine Vaterschaft bestritten. Unter lächerlichen Vorwänden wurden die schwangeren Frauen vom Hof vertrieben. Die zahlreichen Affä-ren hat er verheimlicht, um das Erbe für seinen Sohn Maximilian zu sichern. Ich vermute, dass der herumirrende Geist in einer engen Verbindung zu den Schandtaten des Kurfürs-ten steht. Vielleicht ist es eine vertriebene Magd, die nach ihrem verlorenen Kind sucht oder den Kurfürsten zur Rechenschaft ziehen möchte. Ich habe Räucherwerk, die Bibel und ein diamantenbesetztes Kreuz mitgebracht. Im Kreuz ist eine Reliquie des Heiligen Blasius eingearbeitet. Wenn es uns gelingt, dem herumirrenden Geist seinen Namen zu entlocken, ist der Bann gebrochen. Seine endgültige Vertreibung ist dadurch möglich. Punkt zwölf gehen wir gemeinsam in das Kellergewölbe. Zuerst beten wir das Vaterun-ser, und anschließend sprechen wir gemeinsam ein Gebet. Ich gehe mit dem Kreuz vo-ran, ihr folgt mir auf den Fuß. Vorsorglich hat Nina den Keller schon mit Weihwasser besprengt.«

Als um Mitternacht die Kirchturmuhr schlug, bewaffnete sich Pfarrer Meinert mit dem geweihten Kreuz. Langsam stiegen wir die Kellertreppe hinunter. Ich hielt eine Petrole-umlampe in der Hand. Die Treppe war nur spärlich beleuchtet. Vorwärtstastend hielt ich mich am Treppengeländer fest. Nina folgte mir. Sie flüsterte: »Obacht, hier geht es ziem-lich tief hinunter, die Stufen sind sehr glitschig. Hier ist es überall muffig und feucht. Mein Mann wollte vor Jahren das alte Gemäuer renovieren, aber er hat das Vorhaben vor sich hergeschoben. Einige Gänge und Ecken sind mir noch völlig unbekannt. Ich bin nur sehr selten hier unten. Jedes Mal hat es mich gegruselt, und ich war froh, wenn ich mit heiler Haut wieder nach oben gekommen bin.«

Ich stolperte über ein Brett und wäre beinahe auf dem glitschigen Boden ausgerutscht. Nina packte mich geistesgegenwärtig am Hosenbund und bewahrte mich vor dem Sturz. Vor uns tauchte ein großer Bücherschrank auf. Die Glasscheiben waren blind. Ich ver-suchte, die Schranktür zu öffnen, aber sie wollte nicht aufgehen. Ich rüttelte an der Tür. Mit einem kräftigen Ruck schlug sie mir ins Gesicht. In den Regalen lagerten wahllos übereinandergestapelte Folianten und vergilbte Bücher. 


Ich sagte zu Nina: »Womöglich stammen die Dokumente aus dem vorigen Jahrhundert, vielleicht sind sie noch älter. Ich denke, dass sie uns einiges über die Geschichte des Hau-ses verraten werden. Ein Bibliothekar sollte alles sorgfältig überprüfen.« Nina nickte. »Ich kenne einen pensionierten Professor, der im Heimatkundemuseum arbeitet. Der wird sich bestimmt freuen, wenn er die Dokumente in die Hände bekommt.« Wir gingen weiter. In der Ferne leuchtete uns ein Licht entgegen. Mit beiden Händen erhob ich Vishnus Skulptur. Das Licht schien uns wie ein Magnet anzuziehen. 

Plötzlich stoppte Pfarrer Meinert. Er flüsterte uns zu: »Vielleicht ist es eine Falle, wir dür-fen uns nicht ins Verderben ziehen lassen. Früher haben Piraten am Strand Leuchtfeuer entfacht, um Schiffe auszurauben. Kaum war das Schiff auf Grund gelaufen, wurde die Besatzung massakriert und das Schiff geplündert.« Pfarrer Meinert hob einen Stein auf und warf ihn in Richtung des immer heller werdenden Lichts. Der Stein schlug in einiger Entfernung auf und holperte ein Stückchen weiter. Plötzlich war es wieder still. Nina er-fasste meine Hand. Ihr keuchender Atem unterbrach die gespenstische Stille. Wir nah-men unseren Mut zusammen und näherten uns vorsichtig dem heller werdenden Licht. Der Vollmond drang durch ein weiter obenliegendes Kellerfenster.


»In der Nacht können einem die Sinne einen Streich spielen«, murmelte der Pfarrer er-leichtert. Plötzlich schlug ein Kellerfenster krachend gegen die Wand. Nina entschuldigte sich: »Ich habe ganz vergessen, das Kellerfenster zu schließen.« Im matten Licht des Mondscheins stellten wir uns nebeneinander auf. Nach dem Vaterunser zelebrierten wir ein Gebet: »Im Namen Gottvaters, des Heiligen Geistes und unseres Herren Jesus Chris-tus: Gib uns deinen wahren Namen preis! Der Herr wird dich von deinem Elend erlösen segnen. Amen.«


Pfarrer Meinert richtet das Kreuz drohend zum Kellerfenster. Nach dreimaliger Wieder-holung des Gebetes rührte sich noch immer nichts. Eine Weile blieben wir wie gebannt stehen. Ich spürte einen kalten Luftzug an meiner Wange. Auch Pfarrer Meinert erschien sehr angespannt. Er drehte sich zu uns um. Vishnus Statue verbarg ich blitzschnell hinter meinem Rücken. Dann meinte er, dass der Geist wahrscheinlich die Flucht ergriffen hät-te. »Das Phänomen wurde schon oft beschrieben. Der Geist will den direkten Kontakt unbedingt vermeiden. Wir können beruhigt sein: Er ist vor der christlichen Übermacht und unseren Gebeten geflohen. Er kann nicht mehr in dieses Haus zurückkehren; der Keller ist gesegnet. Leider konnten wir den Geist nicht erlösen, aber er wird Nina nicht mehr belästigen.« Pfarrer Meinert sprach ein Dankgebet.


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unglaublich

Merkwürdige Kurzgeschichten mit Charakter und Humor

De Gaulle und Adenauer haben Freundschaft geschlossen. Jetzt können die deutschen Soldaten mit den Franzosen zusammen in Lourdes feiern.


Sechs Tage wurden den Soldaten für die Wallfahrt nach Lourdes geschenkt. Der Zug war rappelvoll. Sechs freie Tage! Auf dem weiten Weg in die Pyrenäen waren Katholiken, Protestanten, Adventisten, Baptisten, Wiedertäufer, Quäker und selbst Atheisten unterwegs. Die Offiziere, Feldwebel und einfachen Rekruten drängelten sich in christlicher Manier in die Abteile. Der Militärpfarrer saß vorne in der ersten Klasse. Der Sonderzug fuhr ohne Halt zum heiligen Ort. Mit Bier und Hochprozentigem hatten sich die meisten reichlich eingedeckt. Die Fahrt war lang, die Vorfreude auf das Kirchenfest sehr groß. Alkohol floss schon jetzt in Strömen. Selbst die Abstinenzler nahmen manchen Schluck, um sich wegen des Lärms der Kameraden in den Schlaf zu schunkeln. Erst nach Mitternacht wurde die aufgedrehte Truppe langsam müde. Die Luft war stickig. Bierdunst und alle möglichen Körpergerüche durchzogen die Abteile. Die aufgeklappten Sitze boten nur wenig Platz. Der Länge nach oder seitlich nebeneinander lagen die Soldaten erschöpft in ihren Abteilen.


Nur knapp war Gebirgsjäger Seidel dem Arrest entkommen. Der Pfarrer hatte ihm bei der Beichte ein Angebot gemacht: »Eine Pilgerfahrt in Demut könnte dich vor weiterer Bestrafung schützen.« Guten Willens wollte der Rekrut in Lourdes Vergebung erfahren.


Während des Appells war er schon mehrfach aufgefallen: Beim Kommando »Augen rechts« hatte er wiederholt nach links geschaut. Angetreten im Karree, hatte Seidel auf der falschen Seite gestanden. Seine Hose war nicht gebügelt, die Mütze saß schief oder sie war zu weit nach vorne gekippt. Beim Gebirgsmarsch war er immer schweißgebadet und meistens der Letzte der ganzen Truppe. Die Ermahnungen seines Kommandeurs hatte er dennoch nicht kommentarlos hingenommen. Leutnant Hauser hatte ihn bald im Visier: Urlaubssperre und nächtlicher Sonderwachdienst boten ihm einen Vorgeschmack auf künftige Zeiten.


Wie der Zufall es wollte, lag Rekrut Seidel auf der Pilgerfahrt neben seinem Vorgesetzten Hauser im Abteil. Die wohlige Nähe eines männlichen Körpers versetzte den Leutnant in Erregung; der Offizier machte sich wortlos an seinem Nachbarn zu schaffen. Seidel war schon in Tiefschlaf gefallen. Er wälzte sich knurrend zur Seite. Doch Hauser ließ nicht locker. Erst jetzt merkte der schlaftrunkene Rekrut, dass etwas nicht stimmte. Entsetzt starrte er seinem Vorgesetzten ins Gesicht. Gleich darauf rammte er ihm kräftig seinen Ellenbogen in die Rippen. Auch der Leutnant erstarrte, als er Seidel erkannte. Ärgerlich schnaufend verließ Hauser das Abteil und ging nach vorne in die erste Klasse. Die Hose hing ihm noch herunter.


Im Alter von 14 Jahren hatte Bernadette Soubirous eine weiß gewandete Erscheinung über der Grotte in Lourdes gesehen. Wieder und wieder besuchte sie die Jungfrau mit den Rosenkränzen. »Ich bin die unbefleckte Empfängnis«, hatte sie dem jungen Mädchen zugeflüstert. Ehrfurchtsvoll erstarrte Bernadette vor ihrem freundlich-milden Blick.


Eine mächtige Basilika ist später über der Grotte errichtet worden. Die Jungfrau Maria steht nun segensreich auf einem Sims über der Höhle in Lourdes. Tausende Sünder und Behinderte pilgern täglich zum heiligen Schrein. Gnade und Erlösung erfahren hier selbst ungläubige Touristen. Weggeworfene Krücken stehen gleich neben der heiligen Quelle.


Schon von Weitem schallte den Soldaten Marschmusik entgegen. Die Zelte waren außerhalb des heiligen Bezirkes errichtet worden. Rekruten aus aller Herren Länder strömten zur Messe. Weiß gekleidete Priester sangen wieder und wieder ihre frommen Lieder. Aus allen Kehlen erklang im Echo das freudig-fromme Halleluja.


Mit dem Sakrament der Kommunion erreichte die Zeremonie ihren Höhepunkt. Militärkapellen strömten durch das Städtchen. Ein feierlicher Rahmen, Gottes Segen überall. Die Sünden waren ihnen vergeben. Sogar zukünftige Sünden standen unter der Gnade der ewig verzeihenden Mutter...

»Bist du trittfest?«, fragte Felix Anna. »Mit meinen neuen Bergstiefeln schon«, antwortete sie. »Sieh mal hier, auf der Karte. Die Tour auf die Kandel können wir locker schaffen. Der Berg ist gut 1200 Meter hoch. Die Landschaft und der Ausblick ins Tal sind atemberaubend. Von unserer Pension in St. Peter brauchen wir gut drei Stunden rauf. Der Weg zurück ist kürzer.«


»Super«, rief Anna begeistert. »Im Naturpark gibt es seltene Tiere und Pflanzen. Wenn wir Glück haben, überraschen wir eine scheue Wildkatze oder es läuft uns ein prächtiger Rothirsch über den Weg. Einen Achtender kenne ich nur aus dem Zoo. Jedenfalls brauchen wir feste Schuhe. Die Kreuzottern sind zwar scheu, aber man weiß ja nie, ob eine aus dem Hinterhalt zuschnappt. Am besten starten wir gleich in der Früh, die Tage sind im Herbst nicht allzu lang.«


Am nächsten Morgen zogen sie los. «Auf der Karte sieht alles leichter aus«, schnaufte Anna während des Aufstiegs. »Der Weg ist ziemlich schmal, gleich daneben geht es steil herunter. Zum Glück gibt es Halteseile und ab und zu ein festes Geländer.«


»Jetzt machen wir erst mal ein Päuschen«, beruhigte sie Felix. »Wer weiß, wann wir den Berggasthof erreichen!«


Rote Moos- und Vogelbeeren säumten ihren Weg. Sonnengelbe Arnika winkte ihnen freundlich zu. Vorbei an Hunderte Jahre alten Rotbuchen und Eichen erreichten sie endlich den Gasthof. Sie genossen die herrliche Aussicht auf dem Gipfel. »Viel Zeit bleibt uns nicht«, gab Anna zu bedenken. »Wir sollten bald wieder aufbrechen.«


Auf dem Rückweg humpelte Anna plötzlich. Sie hatte sich die Ferse wund gescheuert. »Die werden wir gleich versorgen«, rief Felix. Er hatte für den Notfall an alles gedacht. Aus seinem Rucksack kramte er das Erste-Hilfe-Set heraus. Anna streckte ihren ramponierten Fuß in die Höhe.


Mit einer unbedachten Bewegung schob Felix den losen Schuh zur Seite. Der purzelte wie in Zeitlupe den Abhang hinunter. Plötzlich herrschte Stille. »Ach, du meine Güte! Es ist völlig sinnlos, den Schuh zu retten«, rief Felix entsetzt und entschuldigte sich tausend Mal bei Anna. »Und mit deinem nackten Fuß kommst du keinen Schritt weiter. Wir müssen improvisieren.« Mit einem Mullverband befestigte er ein Brotzeitbrett unter ihrem Fuß.


Anna schleppte sich, so gut es ging, hinter ihrem Begleiter her. »Wir haben keine Wahl, da müssen wir durch, gleich bricht die Dunkelheit herein.«


An einer Kreuzung blieben sie stehen. Ein Schild wies zur sagenumwobenen Teufelskanzel. Sie ragte wie ein warnendes Mahnmal wuchtig aus dem Gestein hervor. »Die Legende sagt, dass die Hexe Kandela den riesigen Felsbrocken voller Wut in die Tiefe geschleudert hat«, erklärte Felix seiner Gefährtin. »In der Walpurgisnacht hätte sie den Berggeistern ihre Macht und Stärke beweisen wollen.« 


»Die Teufelskanzel sollten wir meiden«, flüsterte Anna. »Die Schatten der Bäume werden immer länger.« Die Dunkelheit brach herein. Der Weg wurde schmaler. Sie waren auf einen Jägersteig geraten. Das Gestrüpp wurde dichter. Sie kämpften sich weiter voran. Zweige schlugen ihnen ins Gesicht. Dornen und Gestrüpp zerkratzen ihre Arme und Beine. Blut tropfte auf den Boden. Es war sinnlos, nach einem besseren Weg zu suchen. Blasser Mondschein erhellte das Gehölz nur schwach. Die bedrückende Stille wurde nur von ihrem keuchenden Atmen und dem Rascheln ihrer Schritte unterbrochen. Anna stürzte über einen Ast. Er lag auf dem schmalen Trampelpfad wie eine boshaft ausgelegte Falle.


»Es hat keinen Sinn«, rief Felix. »Wir bleiben erst mal hier und warten bis zum frühen Morgen.« Erschöpft sanken sie ins Unterholz. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Gelb glühende Augen leuchteten zu ihnen herüber. »Ist es womöglich die Hexe Kandela?«, murmelte Anna.


Im Gebüsch hörte sie ein leises Knacken. Mit letzter Mühe konnte sie einen Angstschrei unterdrücken. »Wir müssen weiter«, flüsterte sie Felix zu, die Hexe ist ganz in der Nähe.« Felix musterte die Umgebung. Im fahlen Mondschein warfen selbst die Bäume keine Schatten. »Sie hat sich wohl in Luft aufgelöst«, raunte ihr Felix zu. »Die findet uns«, erwiderte Anna, »sie braucht ja nur unserer Blutspur zu folgen.«


Sie irrten weiter durch das unwegsame Gelände. Der Mond glotzte sie wortlos an. »Du kennst doch das Märchen von Hänsel und Gretel«, erzählte Felix. »Zu guter Letzt landete die böse Hexe im Ofen. Hänsel und Gretel finden den Weg nach Hause zurück. Weiße Kieselsteine haben wir leider nicht ausgelegt, aber wir finden bestimmt einen Weg aus diesem Irrgarten heraus. Bald wird es hell. Die Hexen und Geister scheuen das Tageslicht.«


Die Morgendämmerung kroch allmählich über den Horizont. »Das ist ja wie im Märchen!«, jubelte Felix. Auf einem Felsen nahe am Abgrund lag Annas Schuh. Mit einem Ast bugsierte er ihn vorsichtig zu sich heran. Anna war gerettet. Bald fanden sie wieder ihren Weg.


»Sieh doch, da drüben ist St. Peter«, rief Anna glücklich. Ihre kleine Pension erreichten sie zur Frühstückszeit. Sie stärkten sich mit heißem Kaffee und einem deftigen Frühstück.


»Ich habe gestern Abend die Bergrettung alarmiert«, berichtete die besorgte Wirtin. »Sie wollten gerade mit der Suche beginnen. Gott sei Dank ist nichts Schlimmes passiert. Ich rufe ...

In der Chronik von Ackershausen wird ein unerklärliches Unglück erwähnt: Niemand sah das nahende Unheil kommen. Anfangs entstanden kleine, mauselochähnliche Löcher auf den Feldern und Wiesen. Man glaubte zunächst an eine Mäuseplage. Die Krater vergrößerten sich im Laufe der Zeit zu manns-hohen Abgründen. Menschen stürzten nichts ahnend hinein. Der Dorfpfarrer warnte in seiner Predigt die Sünder: Die Tore zur Hölle hätten sich geöffnet. Die Menschen müssten Buße tun. Er sprach von tätiger Reue. Durch Besinnung und Gebete könnte man den Zorn Gottes noch abwenden oder wenigstens mildern. Ansonsten würde die Apokalypse bald über die gesamte Region hereinbrechen. Jeder müsste sich vor dem Jüngsten Gericht verantworten. Die Warnungen hätten sich in letzter Zeit gehäuft. Schon beim Turmbau zu Babel hätte Gott die Menschen vor ihrem Hochmut gewarnt. Seine gerechte Strafe ließ nicht mehr lange auf sich warten. Andere glaubten wiederum, dass womöglich Außerirdische eine unterirdische Festung errichtet hätten. Mit gewaltigen Rammen würden sie das Erdreich erschüttern. Der Dorflehrer meinte, es könnten auch gigantische Maulwürfe dahinterstecken. Eine genetische Veränderung der bisher harmlosen Spitzmaulwürfe käme infrage. Sie würden den Untergrund mit riesigen Schaufeln und Krallen blindlings durchwühlen. Auch die neu errichtete Molkerei kam als Übeltäter in Betracht. Der zuständige Bauingenieur und die Vertreter der Molkereigenossenschaft wurden von der Gemeindeverwaltung penibel befragt. Fieberhaft suchte man nach den Gründen des Unglücks. Eine Zerstörung ohne Ursache konnte es nicht geben!


Immer neue Löcher und mächtige Krater entstanden im Laufe der Zeit. Die einst friedliche Landschaft wurde total verwüstet. Mittlerweile waren etliche Straßen unbefahrbar. Große Warnschilder wurden aufgestellt. Wie von Geisterhand stürzten über Nacht Häuser ein. Auch das Gemeindehaus blieb nicht verschont. Warnungen ergingen an alle Bewohner: Nach Anbruch der Dunkelheit sollten sie ihre Wohnungen nicht mehr verlassen. Das sei eine völlig unsinnige Maßnahme, meinte der Dorflehrer. Selbst die stabilsten Häuser würden keinen Schutz für Leib und Leben bieten.


Selten kommt ein Unglück allein: Das Grundwasser überschwemmte die Krater und das umliegende Land. Sämtliche Bewohner mussten vor den hereinbrechenden Wassermassen fliehen. Überall herrschte Chaos. Provisorische Zeltlager wurden in aller Eile errichtet. Das Vieh wurde auf höher gelegene Areale getrieben. Eine neue Ortschaft sollte schleunigst errichtet werden. Ein riesiger Schutzwall könnte das neu errichtete Dorf vor den Naturgewalten schützen. In aller Eile wurden neue Häuser und Ställe errichtet. Die örtliche Zement-fabrik war völlig überfordert. Durch landesweite Anstrengungen fand das Vorhaben schließlich ein gutes Ende. Die bedeutendsten Repräsentanten des Bezirks eilten zum Richtfest herbei. Das neue Wasserkraftwerk wurde ebenfalls eingeweiht. Der Pfarrer segnete sämtliche Häuser. Jeder Türbalken war mit den Initialen der Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland geschmückt: C + M + B. Die Festredner lobten die Ingenieurskunst und den Eifer der Erbauer. »Nun endlich können wir wieder mit großer Freude und Zuversicht in die Zukunft blicken«, verkündete der Bürgermeister.


Kurze Zeit später ereigneten sich in anderen Orten weitere unerklärliche Erdeinbrüche. Wie das Ganze ausgegangen ist, wissen wir nicht. Die Chronik endet hier.


Eine düstere Stimmung hat sich seit längerer Zeit in meiner Seele eingenistet. Schlaflose Nächte haben mir alle Energie geraubt. Immer langsamer erhole ich mich von den Schwächeanfällen. Alles zerfällt, nicht nur mein Körper: Das Mauerwerk bröckelt. Regenwasser rinnt aus verstopften Dachrinnen an den Häuserwänden herunter. Auf den Dächern krallen sich Bäume und Sträucher an Dachziegeln fest. Ich verliere den Glauben an bessere Zeiten. Ohne Hoffnung verlasse ich meine Bleibe. Warum überhaupt? Über vertraute Wege laufe ich in die ausgestorbene City. In der Dämmerung stolpere ich über Unrat. An manchen Stellen dreht er sich, wie von einer Windhose getrieben, raschelnd im Kreis. Ich schlage meinen Mantelkragen hoch. Gegen den böigen Wind kämpfe ich mich mühsam voran. Nieselregen weht mir ins Gesicht. An einer Straßenecke bleibe ich stehen. In der Stadt herrscht eine unheimliche Stille. Ab und zu wird sie von scheppernden Blechdosen durchbrochen. Mitunter flackert Kerzenlicht durch die verstaubten Fenster. Wieder mal einer der berühmten Stromausfälle! Man gewöhnt sich an alles. Die Menschen haben sich in ihren Häusern verkrochen. Wie soll das erst im Winter werden? Vielleicht flüchten die Verbliebenen vor dem nächsten Kälteeinbruch. Doch wohin?


Mir fallen die längst vergessenen Goldgräbersiedlungen in Colorado ein: Vor hundertvierzig Jahren zog der Goldrausch Zehntausende Glücksritter an. Das Leben tobte in den damals winzigen Käffern. Bis zu den Ausläufern der Rocky Mountains ließen sich Kneipenwirte und leichte Mädchen mit Nuggets bezahlen. Johlende Männer zeigten voller Stolz ihre Beute, die sie tagsüber mühsam aus dem Fluss herausgewaschen hatten. Am Abend eilten sie überglücklich in den nächsten Saloon. Die Goldfunde wurden erst mal mit Bier und Whisky begossen. Wenige Stunden später waren ihre Taschen wieder leer. Was soll`s?: »Ein neuer Tag, ein neues Glück, dachten sie sich. Die Nuggets warten auf uns.« Spielhöllen schossen wie Pilze aus dem Boden. Selbst die Betten in den Bordellen wurden knapp. Doch dem Einfallsreichtum der Prostituierten war es zu verdanken, dass in den eilig errichteten Etablissements die Glücksritter nicht allzu lange auf ein freies Bett warten mussten. Bald folgten ihnen bewaffnete Banditen. Von ihren Raubzügen blieb kaum eine Bank verschont. Butch Cassidy und Sundance Kid machten fette Beute. Erst 1906 wurde Butch Cassidy in Bolivien gestellt. Der letzte Gangster des Wilden Westens starb im Kugelhagel der Polizei. Viel früher war der Spuk in Colorado vorbei. Jetzt bestaunen nur noch neugierige Touristen die alten Goldgräberstätten. Vereinzelt ragen verrostete Hacken und Schaufeln aus dem Wüstensand hervor. Erinnerungsfotos zeigen die längst versunkenen Träume.


Das Klappern der Fensterläden schreckt mich aus meinen Gedanken auf. Irgendwie geht das Leben weiter, tröste ich mich. In den verlassenen Häusern haben es sich mittlerweile die Ratten gemütlich gemacht. Sie streiten sich fiepend mit den Raben um Kadaver und Nahrungsreste. Aus den Hausein-gängen dringt ein muffiger Geruch. Üble Ausdünstungen schnüren mir die Kehle zu. Leere Konser-vendosen, Plastikreste, Papierfetzen, Lumpen und Plunder aller Art liegen herum. Die Geschäfte haben schon vor Monaten dichtgemacht. Eins nach dem anderen ist pleitegegangen. Die Schaufenster sind eingeschlagen oder zumindest völlig verdreckt. Die letzten brauchbaren Reste wurden aus den Läden geplündert. Die Fabriken sind leer, die Maschinen stehen still. Den Leuten fehlt das Geld an allen Ecken und Enden. Die meisten sind schon längst weggezogen. Nach langem Siechtum liegt die Stadt in Agonie. Nur die Werbeplakate erinnern an bessere Zeiten: Autos, Coca-Cola-Werbung, lachende Pin-Up- Girls prangen noch an den Hochhausfassaden. Banken, Spielcasinos, randvoll gefüllte Kneipen, leichte Mädchen im Rotlichtviertel, der endlose Lärm der Großstadt – alles ist begraben und versunken. Klappe zu, Affe tot! Straßenhändler verkaufen zu Mondpreisen Obst, Kartoffeln und Gemüse an die Hungerleider. Bettler durchwühlen den Müll nach Essensresten. Bewaffnete Banden durchstreifen die Viertel. Die einst blühende Metropole ist zu einem einzigen Drecksloch verkommen.


Plötzlich höre ich eine kreischende Menschenmenge. Auf einem Platz, mitten im Zentrum von Detroit, wird ein Footballspiel übertragen. Die Mannschaft hat einen Punkt Vorsprung. Die Fans tanzen voller Begeisterung, Jubelschreie erschallen über dem Platz. Im Siegestaumel umarmt mich ein Fremder. Der entfesselte Haufen reißt mich aus meiner Lethargie. Doch die Freude ist nur von kurzer Dauer. Jäh wendet sich das Blatt. Die Gegner machen den Vorsprung im Nu wieder wett. Kurze Zeit später setzen sie noch eins drauf und gehen in Führung. Die Freudenrufe verstummen und weichen ungläubigem Entsetzen. Am Ende hat ihr Favorit das gewonnen geglaubte Spiel vergeigt. Mit gesenkten Köpfen schleichen sie wortlos vom Platz.


Ein kalter Wind pfeift durch das jetzt menschenleere Areal. Mit einem Schlag ist es wieder still ge-worden, totenstill. Ein neuerlicher Schwächeanfall wirft mich fast zu Boden. Ich schleppe mich in meine trostlose Unterkunft zurück. Die Raben im Garten begrüßen mich mit schadenfrohem Gekrächze. Sie haben die Niederlage geahnt.


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Alles Liebe, oder was?

»Franz Sütterlin wurde 1865 hier in Lahr geboren«, erläuterte Frau Heidenreich ihren Schülern. »Er hat mit seiner Handschrift eine ganze Epoche geprägt. Im 22.Lebensjahr verließ Sütterlin unsere Heimatstadt und ging nach Berlin. Dort hat der Grafiker die Handschrift entworfen. Schon mit zweiundfünfzig Jahren verstarb er 1917 in Berlin. Man sagt, er sei verhungert. Es war eine schreckliche Zeit. Seine Handschrift wurde erst 1941 durch das lateinische Alphabet ersetzt. Auch Bertolt Brecht hat seine ersten Gedichte in Sütterlin geschrieben. Vor dem Abitur werden wir uns noch einmal mit Brecht befassen.«


Ausgerechnet an Melissas siebzehntem Geburtstag wurde die Dreigroschenoper im Deutschunterricht behandelt. Die Abiturienten sollten in den nächsten Stunden den Dreiakter von Bertolt Brechts Theaterstück lesen und diskutieren. Der Musiklehrer würde sogar einige Stücke aus der Dreigroschenoper auf dem Klavier spielen. Musikalisch begabte Schüler könnten einige Songs aus der Dreigroschenoper vortragen. Die Lehrerin, Frau Heidenreich, hatte vorsorglich den Direktor von ihrer Absicht informiert. Zunächst hatte der Direktor gegen das Projekt Einwände.


»Frau Heidenreich, wissen Sie, was Sie damit Ihren Schülern antun? Die Schüler werden in den Morast von Dieben und Huren gezogen. Sie sollten sich lieber mit Goethes Faust beschäftigen.«


Sie erwiderte: »Der Goethe ist auch nicht viel besser. Faust verlässt das arme Gretchen. Schließlich wird sie als Kindsmörderin hingerichtet. Überall lauert Verrat. Das Treiben Fausts steht der Rache der verschmähten Geliebten Jenny in nichts nach. Auch er hat, wie Mackie Messer, ein Bündnis mit dem Bösen geschlossen.« Widerstrebend gab der Direktor dem Ansinnen seiner Deutschlehrerin nach.


Melissa las mit zunehmender Begeisterung das Theaterstück. Die Rolle von Polly, der Tochter des Bettlerkönigs Peachum, gefiel ihr besonders gut. ,So möchte ich auch einmal eine Ehe eingehen’, träumte sie: ,Heiraten im Pferdestall und dazu noch einen richtigen Kerl, einen wie Mackie Messer! Der ist furchtlos und hat das Glück auf seiner Seite. Mit Hilfe der Tochter des Polizeipräsidenten flieht er aus dem Gefängnis. Nicht einmal der Galgen kann ihm etwas anhaben. Zu guter Letzt wird er vom König begnadigt und sogar in den Adelsstand erhoben. Und singen dürfen wir auch noch dazu. Ich hoffe, dass Alex den Mackie-Messer-Song übernimmt. Das kann ja eine schöne Geschichte werden. Der Dummkopf hat noch gar nicht bemerkt, dass ich mich in ihn verliebt habe. Wenn ich ihm als Polly meine Herzenswünsche vorsinge, wird er mir nicht mehr widerstehen können. Er wird weinen und meine Sehnsucht verstehen. Die Marianne aus unserer Klasse, diese blöde Kuh, die ihm immer schöne Augen macht, wird ihn als Seeräuber-Jenny an den Galgen liefern. Das nennt man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.‘


Am nächsten Tag fragte Frau Heidenreich ihre Schüler, ob sie einen Song aus der Dreigroschenoper singen möchten. Marianne konnte nicht widerstehen, als verschmähte Geliebte würde sie Mackie der Polizei ausliefern. Alex, der schon immer im Musikunterricht der Beste war, sollte die Moritat von Mackie Messer singen. Schon trällerte er in der Pause: ,Und der Haifisch, der hat Zähne, und die trägt er im Gesicht…‘ Er fand sich damit ab, dass ihn Marianne als Jenny an die Polizei verpfeifen würde. ,Es ist ja nur ein Spiel‘, beruhigte er sich.‘


Marianne las den Text mit großem Vergnügen: »Und wenn der Kopf fällt, dann sage ich hoppla. Und das Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen wird entschwinden mit mir.« ,Ein schöner Text mit einer starken Musik von Kurt Weill. Das Gegenteil ist der Fall, ich möchte tausendmal lieber Alex den Kopf verdrehen.‘ Sie schrieb ihm eine WhatsApp: »Lieber Alex, ich freue mich auf unseren Auftritt. Wir können mit Herrn Dreifuß, heute Nachmittag die Songs üben.«


Marianne staunte nicht schlecht, als beim Singspiel plötzlich Melissa auftauchte. ,Diese eingebildete Zicke muss sich doch überall einmischen. Was soll‘s. Die dämliche Melissa wird den Mackie Messer nur im Pferdestall anhimmeln. Wunderbar, eine Hochzeit im Stall. Die Pferde werden dabei wiehern, und ich werde ihr meine Glückwünsche überbringen.‘


»Liebe Moritatensänger«, begrüßte Herr Dreifuß die sangesfreudigen Bewerber, »habt ihr die Texte dabei?« »Natürlich«, riefen sie im Chor. »Alex, fängst du mal an: Mack the Knife, bitte.«


Alex begann zu singen, Herr Dreifuß korrigierte ihn. »Es heißt nicht: An `nem schönen blauen Sonntag liegt ein toter Mann am Strand. Der englische Akzent muss rauskommen, die Szene spielt in London, in Soho. Der tote Mann liegt am Strend.«


»Ja«, sagt Alex: »Der Tote liegt am Strend, das reimt sich auf die nächste Zeile, den man Mackie Messer nennt.«

»Und beim letzten Satz machst du eine verschwörerische Handbewegung, die Hand muss mit einem Ruck nach unten fallen: Die im Dunkeln sieht man nicht.«


Alex fing noch mal an: »Und der Haifisch, der hat Zähne…«


»Wunderbar«, lobte ihn der Musiklehrer »Der Gesang, die Betonung, die Mimik und Gestik. Alles passt gut zusammen.«

Plötzlich fiel es Alex ein: »Morgen ist Weiberfastnacht in Freiburg.« Nach dem Faschingsumzug wird am Rathaus der Narrenbaum aufgestellt. Wir treffen uns am besten dort, oder?« Beide nickten.


»Des wird bestimmt a Gaudi«, sagte Franz. »In Lahr wird auch gefeiert, aber jetzt bin ich neugierig, wie es in Freiburg zugeht.«


»Habt ihr Masken?«, fragte Alex. Veronika nickte, Franz schüttelte den Kopf. »Das macht nichts, Franz, ich gebe dir meine. Ich habe sie letztes Jahr in Lahr getragen. Die Maske des Hansele wird dir bestimmt gutstehen. Das Lachen erledigt die Maske für dich.«


»Prima«, meinte Franz. »Ein passendes Kopftuch, eine bunte Jacke und Hose werde ich noch auftreiben. Und was ziehst du morgen an, Alex?«

»Ich habe noch eine Wolfsmaske und einen schmutzig-braunen Fellanzug. Veronika, ich hoffe nicht, dass du dich morgen als Rotkäppchen verkleidest. Sonst wird es für dich gefährlich.«


Veronika lachte: »Alex, ich habe keine Angst vor dir. Du solltest dich lieber vor mir fürchten. Ich komme als Hexe Baba Jaga. Pass auf, dass ich dich nicht mit dem Besen erwische. Außerdem habe ich eine Schere dabei!«


»Wir geben ein super Trio ab«, bekräftigte Alex. »Am besten, wir treffen uns morgen Vormittag bei mir. Und eins rate ich euch: Wir sollten uns in dem Trubel nicht aus den Augen verlieren. Beim Fastnachtstreiben gibt es unzählige Hanseles und Hexen, die kann man kaum voneinander unterscheiden.«


»Ich werde dich nicht aus den Augen lassen«, versprach Veronika. »Bei dir weiß man nie genau, ob dich nicht eine Prinzessin ins Märchenland entführt.«


»Übertreib nicht, Veronika. Es ist höchste Zeit, der Frühling steht vor der Tür. Wir müssen den Winter austreiben.«


Nach dem Frühstück verabschiedeten sich Christina und Marianne von Gunther. Christina teilte den anderen beim Abschied mit, dass sie tagsüber schon alleine zurechtkäme. Christina und Marianne fuhren mit der Tram nach Freiburg zurück.


»Großer Gott«, rief Marianne, »ich habe völlig vergessen, dass heute der schmutzige Donnerstag ist. Am Rathausplatz wird der Narrenbaum aufgestellt. Die ganze Stadt ist auf den Beinen, es gibt einen großen Faschingsumzug. Kommst du mit, Christina?«


Sie stimmte zu: »Ich habe noch nie einen Faschingsumzug erlebt. In Hamburg ist das völlig unbekannt. Ich bin erst im letzten Jahr nach Freiburg gezogen, da war Fasching längst vorbei.«

»Du wirst dich wundern!«, sagte Marianne, »heute ist in der Stadt der Teufel los!«


Die Straßenbahn hielt in respektvollem Abstand zum närrischen Treiben. Marianne und Christina stiegen aus und stürzten sich ins Menschengewühl. Endlose Narrenzüge strömten in die Stadt. Die Musik der Blaskapellen wurde von lautstarkem Trommeln begleitet, nur das schrille Getöse der Schalmeien übertönte sie. Mitten im Gewühl tanzten Hanseles und Hexen mit furchterregenden Masken. Mit Schellen, Rasseln und Klappern sollte der Winter vertrieben werden. Manche Narren hatten sich am Hinterteil einen Stummelschwanz befestigt, andere zogen eine Schatztruhe auf Rädern hinter sich her. Die Narren hüpften im Rhythmus, um ihre Schellen lautstark zur Geltung zu bringen. Bald wurden sie von Fahnen schwenkenden, Kürassieren umzingelt. Ein Teufel mit Hörnern umarmte Marianne. Gleich darauf versuchte er sie mit seltsamen Handbewegungen zu hypnotisieren. Ein Frosch, mit einem nach vorn gestülpten Maul, wollte Christina küssen. Schützend hielt sie die Hände vors Gesicht.

»Schade, dass wir keine Schere dabeihaben«, bedauerte Marianne.


Christina winkte ab. »Sieh dich um, die Herren tragen heute keine Krawatten. Ich sehe nur grausige Monster oder Gartenzwerge mit Schlumpfmützen!«


Ein Leiterwagen fuhr an ihnen vorbei, er wurde von Bären gezogen. Auf dem Wagen war ein Gefängnis befestigt. Die jungen Mädchen im Käfig flehten um Hilfe. »Lasst uns hier raus!« schrien sie verzweifelt und rüttelten hilflos an den Gitterstäben. Doch unbarmherzig schleppten die finsteren Gesellen die wertvolle Fracht einem unbekannten Ziel entgegen. Auf einem anderen Gefährt lag ein Sarg. In unregelmäßigen Abständen klappte der Sargdeckel auf. Eine darin eingesperrte Frau wollte sich aus ihrer misslichen Lage befreien. Ungerührt schlug ein nebenhergehender Büttel den Sargdeckel wieder zu. Ein erstickter Schrei war selbst durch den Sargdeckel zu hören. »Hoffentlich wird sie nicht lebendig begraben«, sorgte sich ein Mann in einem Kaspar-Kostüm. Jubelnd saßen einige Narren auf einer Wippe, sie trällerten: »Marmor, Stein und Eisen bricht …!« Plötzlich sprang ein Froschkönig aus der Menge und bemalte in Windeseile die Gesichter von Marianne und Christina mit weißer Farbe. Widerstand war zwecklos. Mühsam bahnten sie sich weiter ihren Weg zum Rathausplatz, der Narrenbaum wurde gerade aufgestellt.


»Ein Narrenbaum, was ist das eigentlich?«, fragte Christina.


»Ein Narrenbaum«, erklärte Marianne, »ist so etwas wie ein Maibaum. Er bestätigt die Herrschaft der Narren im Fasching.«


»Und was hängt da oben am Kranz?«, fragte Christina.


»Ach, alles Mögliche! Brezn‘, Würste, Narrenkappen, Pappnasen, alles, was die Narren gebrauchen könnten. Die Buben klettern hinauf und können sich etwas Passendes herunterreißen. Ein schöner Brauch!«


Nach der Aufstellung des Narrenbaumes hielt der Büttenredner eine feierliche Ansprache: »Die fünfte Jahreszeit hat schon längst begonnen: am 11. 11. um elf Uhr elf. Jetzt wird es höchste Zeit, dass der Bürgermeister dem Elferrat den Rathausschlüssel aushändigt. Er wollte ihn am 11.11. nicht rausrücken. Wo steckt denn unser Oberhaupt?« Langsam stieg der Bürgermeister die Treppe zum Rednerpult hinauf. Zögernd überreichte er dem Festredner den goldenen Rathausschlüssel. Dann sagte der Redner: Herr Bürgermeister, wir werden unser Wort halten, Sie bekommen den Rathausschlüssel am Aschermittwoch zurück. Aber im nächsten Jahr geben Sie ihn bitte pünktlich bei uns ab. Jetzt müssen Ihre Amtsgeschäfte bis zum Aschermittwoch ruhen. Die Narren übernehmen die Herrschaft über die Stadt. Haben Sie gegen unseren Beschluss etwas einzuwenden?«

Der Bürgermeister schüttelte wortlos mit dem Kopf.


»Liebe Närrinnen und Narren: De Fasnet ko afanga. Ich bitte die Narrenzunft auf die Bühne.« Gleich darauf eröffnete das Prinzenpaar die närrischen Tage mit einem Tanz. Applaus ertönte. Der Redner ergriff erneut das Wort. »Die kommenden Tage stehen unter dem Motto: ‚Kann denn Liebe Sünde sein?‘» »Noe, noe, noe!«, riefen die Narren im Chor.


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